Meta (IV)

D. ist schon lange fort, und niemals kehrt D. wieder. Eine dringend gewünschte und notwendige neue Wohnung lässt sich nicht finden. Der Arbeitsvertrag läuft Ende des Sommers aus. Die Freundin arbeitet sich halbtot und bekommt abends einen Weinkrampf. Nicht in den Arm nehmen, bitte, sonst hört er gar nicht wieder auf. Was hat sich Meta eigentlich gewünscht? Sie weiß es nicht mehr. Es ist auf einmal schwer, zu wissen, was man will. Wie tot sich Meta gestellt hat. Und kann jetzt nicht mehr einfach aufwachen. Alles fließt - das Einzige, was bei Meta geflossen ist (außer Tränen), weggeflossen ist, sind die Erinnerungen. Aber doch, aber D. ist noch da. Das, was D. einmal gewesen ist, das, was D. einmal bedeutet hat. Hat man vielleicht dafür gelebt? Für diese eine Begegnung, für diese winzige Zeit? Und jetzt, was ist zu machen mit dem abgelegten Glück und mit der Trauer, die nie zu Ende getrauert ist. Die Trauer gehört für Meta zu D. und es ist wohl so, dass Meta deshalb selbst die Trauer liebt. Die Zeit danach, jenseits von D. Aber man weiß ja gar nicht mehr, was wahr ist. Wieviel war wirklich dran, was war Einbildung, Illusion, die jetzt zur Legende geworden ist. Erscheint jetzt alles überlebensgroß, oder ist es immer schon immer überlebensgroß gewesen? Das kann man nicht wissen. Es spielt auch keine Rolle. Aber das, was von Meta kam, was bei Meta noch lebt, Metas Liebe und Metas Trauer, die waren überlebensgroß und sind es noch. Wir werden uns nie mehr finden.

Metas Freundin hat im wissenschaftlichen Aufsatz eine Zwei statt einer Eins bekommen. Sie leidet drei Tage lang an der ersten Zwei seit fünf Jahren. Meta versteht nicht, was an dieser Zwei so gravierend ist; anscheinend fehlt ihr etwas, hauptsächlich wohl der wahre Ehrgeiz - Bachkantate 94: "die Welt kann ihre Lust und Freud/ Das Blendwerk schnöder Eitelkeit/ Nicht hoch genug erhöhen./ Sie wühlt, nur gelben Kot zu finden,/ Gleich einem Maulwurf in den Gründen./ Und läßt dafür den Himmel stehn." Und lässt dafür den Himmel stehen. Nur hat nicht Meta den Himmel stehen lassen, sondern der Himmel sie.

Berufung ist Blödsinn. Ich habe keine Berufung. Niemand hat eine Berufung. Und es ist eine ungeheure Erleichterung, festzustellen, dass man frei ist und keine Berufung hat. Ich verbrenne die Zeit. Zusammengefaltet werfe ich sie mir in den Rachen, denn es hat keinen Sinn, sie aufzusparen. Weil es keine Rolle spielt, ob ich dies tue oder etwas anderes, nehme ich, was sich anbietet. Ich suche nicht, ich jage nicht nach Gelegenheiten, die natürlich keine sind. Das bedeutet nicht Willenlosigkeit, sondern das Akzeptieren der Tatsache, dass das Leben eine Odyssee ist. Eine Giraffe wird durch den Hals getroffen, und das Blut schießt zu beiden Seiten in Fontänen heraus. Sie galoppiert weiter, bis sie beginnt zu taumeln. Das ist Qual, der Moment der Auflösung, eine Illusion, dass man sich diesen Moment ersparen könnte, es gibt kein Guthaben, kein Reservoir, auf das man zurückgreifen könnte, nur das Muss der Hingabe. Das habe ich bisher ununterbrochen befolgt, und ich sehe keine Veranlassung, es zu bedauern. Alle Schmerzen, die ich hatte, fanden ihren Grund in der Auflehnung gegen die bedingungslose Annahme auch von Kummer.

Da saß Meta wieder, in einer Sommernacht um viertel nach vier. Mit dem sicheren Gefühl, dass es kein Buch gab, das sie noch nicht gelesen, keinen Film, den sie nicht schon gesehen hätte (niemanden, den sie nicht schon geliebt...?). Im Fernsehen liefen - wie könnte es anders sein - Clips von vor zehn Jahren. Auf die Überlegung, ob diese zehn Jahre das Beste oder das Schlimmste gewesen waren, hätte Meta keine Antwort gewusst. Etwas zwischen Himmel und Hölle kam nicht infrage, überhaupt hätte ein Dazwischen keine Rolle gespielt, dass aber die Ereignisse der letzten zehn Jahre keine Rolle gespielt hätten, konnte nun nicht einmal Meta ruhigen Gewissens behaupten. "Es ist ein trotzig und verzagt Ding um aller Menschen Herze" (Bk 196). Verzagt war Metas Herz jetzt, aber es trotzte allen Unbilden wie zuvor.

Nein, der Himmel hat Meta nicht stehen lassen, sie hat ihn gar nicht gefunden. (Ist es möglich, überhaupt etwas zu finden, wenn man sich selbst in einem katatonischen Zustand befindet?) Es ist zum Kollaps gekommen. Meta, wieder einmal (und mehr denn je) am Boden zerstört nach einer zerrütteten Beziehung, Meta, die seit Jahren an Studienlähmung leidet und kaum eine andere Lektüre mehr ertragen kann als Kriminalromane, Meta, die sich mit aller Inbrunst in eine neue Verliebtheit stürzt - sie bricht zusammen. Irgendetwas scheint mit ihrem Atem los zu sein. Sie bekommt Husten. Der Husten geht nicht mehr weg. Er wird tiefer, kommt anfallartig. Meta hat Atemnot, und gleichzeitig will etwas aus ihr heraus und schafft es doch mit aller Gewalt nicht. Meta ist monatelang krank und fährt schließlich im Frühjahr zur Kur an die Nordsee. Hat sie daran geglaubt, dass ihr nichts passieren würde? Dass bis auf den jüngsten Tag neue D.s auftauchen würden, an denen sie leiden könnte? Dass immer neue hochgelehrte Zitate die tönernen Füße eines schemenhaften So-bin-ich bilden könnten? Dass sie es würde ertragen können, nichts zu tun, nichts zu schaffen und nichts zu sein (?) als die Summe eines Haufens verwirrter, scheinbar aus dem Vakuums stammender Gefühle? When you wish upon a star/ makes no difference who you are/ when you wish upon a star/ your dream comes true... Meta kann sich keinen Stern herbeizaubern, und selbst wenn sie es könnte, wäre doch der Wunsch so schnell vergangen wie Schaum auf dem Wasser. Es sei denn, sie wünschte sich, eine andere zu sein. Pech nur, dass sie Angst davor hat, dann auch das zu verlieren, was ihr an Meta lieb und teuer ist. Würde Meta noch ein einziges Gedicht schreiben können, wenn sie nicht mehr Meta wäre? Zugegebenermaßen ist die Gedichtfrage eher peripher, aber sie wirft doch ein Licht auf die Natur des Problems. Meta kann sich also nur wünschen, zwar Meta zu sein, aber eine andere Meta.
Das ist lächerlich. Abgesehen davon, dass es schon unmöglich ist, sich ein solches Ergebnis theoretisch vorzustellen, wie sollte denn wohl diese Wandlung praktisch vor sich gehen?

Endlose Strandspaziergänge. Es gibt keine Tage mehr, vor denen man fliehen müsste, und keine, die einem zustoßen. Die Tage sind zu einem Band verwoben, in das Meta sich wickelt. Alles hat seine Zeit. Metas Körper heilt nur zögernd, ihre ganzen Kräfte konzentrieren sich auf seine Genesung. Nachts hat sie lange, erzählende Träume, die sie beim Aufwachen nicht mehr versteht.
Müdigkeit, unglaubliche Müdigkeit.
Es kommt Meta vor, als ob sie eine Zentnerlast mit sich herumschleppe. Jede Bewegung fällt unendlich schwer. Sie kann nicht denken, und alles, was sie in dieser Zeit liest, rauscht durch ihren Kopf, ohne die geringste Spur zu hinterlassen.

Die Liebe bleibt. Wie die Flut, die Unrat oder Schätze an den Strand bringt, lässt die Liebe Teile von sich selbst an den Ufern des Bewusstseins zurück, die manchmal überspült werden, oft aber in der prallen Sonne der Erinnerung brachliegen und langsam verrotten. Ein quälendes Strandgut: eine spitze Last, die bald Tummelplatz für zersetzende Parasiten wird. Modrige Erinnerungen. Meta kannte dies alles, hatte sie doch selbst die lästige Erfahrung machen müssen, dass der Schmerz, mit dem die Liebe aufhört, nicht ihre einzige Hinterlassenschaft ist. Was nach der Zerstörung der Illusion einer gemeinsamen Zukunft mit D. zurückblieb, war nicht die brennende Verzweiflung der Trennung, nicht einmal die taube Gefühllosigkeit, die der Enttäuschung folgte, oder das Bewusstsein verlorenen Glücks.
Nein, was wie Napalm an ihr klebte und nicht aufhören wollte zu brennen, waren die nicht voraussehbaren Schocks, von denen sie überfallen wurde, wenn die Wellen des Bewusstseins sich so weit zurückzogen, dass das Strandgut freilag. Sie konnte z. B. an einem durchaus harmlosen, wahrscheinlich sogar sonnigen Tag durch die Stadt gehen und dort von einem Duft erschlagen werden.
TheSource - 30. Mär, 14:01

Das ist eine sehr, sehr schöne Passage.

honigsaum - 30. Mär, 14:26

Danke! Der Text hilft mir, mich zu erinnern, wie es war.
orgyen - 31. Mär, 15:13

Und solch tiefe Einsichten:
"Alle Schmerzen, die ich hatte, fanden ihren Grund in der Auflehnung gegen die bedingungslose Annahme auch von Kummer."
Das ist echte Lebensweisheit, find ich gut!

honigsaum - 1. Apr, 15:12

War auch teuer erkauft.
orgyen - 2. Apr, 20:42

Du hast die Unwissenheit eingetauscht.
honigsaum - 2. Apr, 21:27

Wissen hat keinen so hohen Wert, finde ich. Aber vielleicht die Möglichkeit, dass das SO nicht noch einmal passiert.
orgyen - 2. Apr, 21:45

Ich finde schon, dass das Wissen ums Loslassen einigen Wert hat.
honigsaum - 2. Apr, 21:47

Die FÄHIGKEIT des Loslassens, ja.
Das Wissen darum, dass es richtig sein könnte, lozulassen, führt noch nicht dazu, dass man es auch kann und tut.
orgyen - 2. Apr, 21:55

Allein die Einsicht, wirklich und echt gedacht und gefühlt, ist ein großer Schritt in Richtung auch Mal wirklich loslassen zu können.
honigsaum - 2. Apr, 21:59

Ja, die Einsicht, da stimme ich dir zu, ist der erste große Schritt.

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